Gerhard Kienle

Gerhard Kienle o.J.

PD Dr. med. Gerhard Kienle (22. November 1923 – 02. Juni 1983) war Neurologe, Wissenschaftler und ein unternehmerisch tätiger Visionär. Aufgewachsen in Berlin und verschiedenen teilweise auch außereuropäischen Ländern nahm er 1941 in distanzierter Haltung zum Nationalsozialismus sein Medizinstudium an der Militärarztakademie in Berlin auf. Nach dem Krieg gründete er in Tübingen das Fichte-Haus, eine anthroposophische Studierendengruppe mit öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten. Schon früh erfasste er die Idee, ein modellartiges Krankenhaus zu entwickeln, das sich in seiner gesamten Gestaltung grundlegend an der Hilfestellung für den erkrankten Menschen orientiert. Nach mehr als zwei Jahrzehnten intensiver Vorbereitungszeit wurde 1969 das Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke als erstes anthroposophisches Akutkrankenhaus gegründet. In der Präambel heißt es:

Alle Arbeit im Krankenhaus dient der Hilfeleistung für den kranken und leidenden Mitmenschen. (...) Wird Krankheit als eine Beeinträchtigung der gesamten Persönlichkeit des erkrankten Menschen verstanden und die Heilungstendenz als das Ringen der Individualität um Selbstverwirklichung, so ergibt sich daraus als Leitsatz des medizinischen und pflegerischen Handelns: Unterstütze den kranken Menschen darin, seine individuellen Möglichkeiten zu verwirklichen und in der Auseinandersetzung mit seinem kranken Leib, seinem Schicksal und der Umwelt neue Verwirklichungsmöglichkeiten zu veranlagen. Die gemeinsamen Anstrengungen der Mitarbeiter im Krankenhaus orientierten sich an der Idee der freien, sich selbst bestimmenden Persönlichkeit. Diese Idee, welche auf das umfassende Verständnis des menschlichen Wesens hinzielt, wurzelt im abendländischen Ideengut und wurde in der Anthroposophie Rudolf Steiners weitergeführt.

Gerhard Kienle

In den 1970er Jahren setzte sich Gerhard Kienle intensiv mit der Arzneimittelgesetzgebung auseinander. In pointierter Weise arbeitete er heraus, dass es eine Ergänzung zu standardisierenden Verfahren wie dem Doppelblindversuch braucht, um die Wirksamkeit eines Medikamentes im konkreten Einzelfall zu beurteilen. Er trat daher dezidiert für eine Schulung und Weiterentwicklung der ärztlichen Urteilskraft ein. Kienle war maßgeblich an der methodenpluralistischen Fassung des Arzneimittelgesetzes von 1976 beteiligt.

Ein wesentlicher Impuls lag für Kienle in der Neugestaltung des Universitätslebens. Dabei ging es ihm darum, eine Universität zu realisieren, die die Freiheit von Lehre und Forschung lebt sowie für die Lösung drängender Zeitfragen wirksam wird. In seiner Rede auf des Dekan-Symposiums in München formuliert er als Motiv für die Gründung der ersten nicht-staatlichen Universität in Deutschland:

Die Ausbildung zum Arzt der Zukunft erfordert (...) die Autonomie der Hochschule mit handlungs-, urteils- und entscheidungsfähigen Kernen, die in der Lage sind, ein wissenschaftliches Medizinstudium so zu gewährleisten, dass der Arzt darauf vorbereitet wird, die Würde des Menschen erkennen und achten zu können, erfolgreich persönlich Hilfe zu leisten und selbstständige Urteilskraft zu entwickeln. (...) Wahrheit, Freiheit und soziale Verantwortung in ihrer vollen Unbedingtheit sind das Modell Herdecke.

Gerhard Kienle

Gemeinsam mit Diether Lauenstein setzte sich Kienle intensiv mit Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte auseinander. Die wesentliche Herausforderung unserer Zeit sei es, Menschlichkeit wissenschaftlich zu fassen. Der Wissenschaft gelingt es zwar zunehmend, die physikalisch-chemischen Aspekte des Menschen zu erfassen. Dabei wird der Organismus als komplexe Maschine verstanden, den man wie bei einem Billardmodell von außen gezielt manipulieren kann („bewegte Bewegung“). Viel schwieriger und existentiell wichtig aber sei es, die Würde und die schöpferische Selbstbewegung des Menschen zu erfassen. Die Universität soll in diesem Sinne ein Ort sein, sich mit der Selbstbewegung des Menschen wissenschaftlich auseinanderzusetzen. Hier sah Kienle auch eine zentrale Aufgabe für die Anthroposophie, nämlich zu einer solchen Wissenschaft vom Menschen beizutragen.

Aufgrund einer schweren Erkrankung konnte er der Gründung der Universität Witten/Herdecke nicht beiwohnen und verstarb im Gründungsjahr.

Lesen/Hören

Sie wollen sich mit Leben und Werk Gerhard Kienles weiter beschäftigen? Dann haben wir einige Anregungen für Sie.

Für viele Menschen ist das Lesen ein klassischer Weg zur Informationsvermittlung. Die meisten der folgenden Bücher zu Gerhard Kienle können Sie im (Online-)Buchhandel erwerben. Sollte ein Buch vergriffen sein, dann ist es evtl. antiquarisch erhältlich.

  • Peter Selg: Gerhard Kienle - Leben und Werk, 2 Bände. Verlag am Goetheanum, Dornach  2003
  • Gerhard Kienle: Die Würde des Menschen und die Humanisierung der Medizin - Aufsätze und Vorträge (hrsg. von Peter Selg). Verlag des Ita Wegman Instituts, Arlesheim 2009
  • Peter Selg: Gerhard Kienle und die Universität Witten/Herdecke. Verlag des Ita Wegman Instituts, Arlesheim 2017
  • Michael von Drachenfels: Gerhard Kienle, die Gemeinschaftsidee und die Krankenpflege. Verlag des Ita Wegman Instituts, Arlesheim 2018

 

Vortrag von Prof. Dr. med. Peter Selg anlässlich des 33. Geburtstags der Universität Witten/Herdecke:

 

 


Integriertes Begleitstudium Anthroposophische Medizin
Fakultät für Gesundheit, Department für Medizin
Universität Witten/Herdecke
Alfred-Herrhausen-Straße 50
58455 Witten